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Claudia Schröder

Heilung eines Blindgeborenen

Ich komme blind auf die Welt.


Die Welt, in die ich hineingeboren werde, muss ich kennenlernen. Ich bin abhängig von meinen Eltern, von meinem Umfeld, von meiner Gesellschaft. Alle diktieren mir von Anfang an, wer oder was ich bin, wie ich mich zu verhalten habe, welche Anforderungen an mich gestellt sind. Meinen eigenen Wahrnehmungen traue ich bis zu einem gewissen Grad, bis dorthin, wo mich mein Umfeld an Grenzen der Fremd- und Eigenwahrnehmung heranführt.

Ich stelle mich selbst in Frage, der Einfluss von außen ist übermächtig. Ich passe mich an, ich integriere mich. Ich falle nicht auf. Ich bin nihilisiert. Ich werde blind für meine Wahrnehmungen, ich werde blind für mein Leben, ich lebe das Leben entsprechend der Erwartungshaltungen anderer.

Dann werden mir die Augen geöffnet. Ich nehme mich wahr. Ich erkenne die Grenzen der Eigenwahrnehmung und Fremdwahrnehmung und - wie sie mich haben erblinden lassen.

Ich gehe über diese Grenzen hinweg.

Ich lasse sie hinter mir.

Ich erwache.

Ich komme in Kontakt mit mir selbst.

Ich bin nicht mehr nichts.


Ich komme in meinem Leben an. Ich teile mich mit. Ich bin nicht mehr blind. Meine Augen sind geöffnet.

Ich sehe. Ich erkenne, mich selbst.

Seht her: Ich lebe. Hier bin ich: Ein neugeborener Mensch. Welch ein Wunder. Ich werde ich. Ich bin ich. Ich darf Sein. Endlich.


> Nein, nein, das kann nicht sein. Das bist nicht Du. Wir kennen Dich anders. < Alte Grenzen klopfen an meine Tür. Ich habe sie überwunden.

Warum kann das niemand sehen?

> Nein, nein, das kann nicht sein. Das kannst nicht Du sein. Wir kennen Dich anders. Geht so etwas überhaupt? Was sagen in diesem Fall denn die Experten? <

Grenzen können hartnäckig sein, das waren sie für mich, sie sind es sicher für die anderen. Warum kann das niemand sehen?

> Nein, nein, das kann nicht sein. Das kannst nicht Du sein. Was sagen Deine Eltern dazu? Als ob es so etwas schon jemals gegeben hätte, dass ein Nicht-Sehender sehend geworden wäre? Dir glauben wir nicht! < Grenzen sind wohl für die anderen unüberwindbar.

Warum sehen sie nicht, was ich sehe? Warum erkennen sie nicht das Offensichtliche? Warum hört niemand zu?


Letztendlich vertraue ich meinen geöffneten Augen. Sie haben mich zu mir geführt, sie haben mir mein Leben gezeigt. Ich bin ich. Dafür bin ich zutiefst dankbar. Mein Umfeld bleibt dagegen blind. Anders „Sein“ passt nicht ins Leben. Mein Umfeld sieht nicht. Es hört nicht. Ich wende mich ab. Ich wende mich dem zu, was mir zum Leben verhilft. Ein Zurück wäre ein Zurück zum Tod.


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